Tipps
Für Fragen und Beratung steht die →Medizinische Kinderschutzhotline 24h / 7 Tage die Woche unter 0800 19 21 000 zur Verfügung. Das Team besteht aus Ärzt:innen, die über spezielle Expertise im medizinischen Kinderschutz verfügen. Das Angebot richtet sich nur an Fachkräfte und nicht an Betroffene oder Privatpersonen.
Die Folgen von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung führen häufig zur Vorstellung in der Notaufnahme oder zur Verständigung des Rettungsdienstes. Dabei ist die Aufgabe der Notfallmedizin, mögliche Kindesmisshandlung zu erkennen und den Betroffenen Hilfe anzubieten. Gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung sollten dem Jugendamt mitgeteilt werden. Bei Gefahr im Verzug oder schwerwiegenden Straftaten sollte im Einzelfall eine Information an die Polizei erwogen werden.
Hintergrund und Definition
Kindesmisshandlung bezeichnet Handlungen im Rahmen der körperlichen, sexualisierten oder emotionalen Gewalt. Daneben kann Vernachlässigung - z.B. durch unterlassene Versorgung, fehlende emotionale Hinwendung und mangelhafte Bereitstellung von Schutz und Fürsorge - erheblichen Schaden verursachen. Während körperliche und sexualisierte Gewalt und deren Folgen präsenter in den Köpfen des Klinikpersonals sind, können die Folgen von Vernachlässigung und emotionaler Gewalt unscheinbarer sein und öfter übersehen werden. Kindesmisshandlung ist in Deutschland weit verbreitet und zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten. Aktuelle, repräsentative Studien belegen, dass
- 12 % der Bevölkerung in ihrer Kindheit körperliche Gewalt,
- 4 % sexualisierte Gewalt,
- 9 % emotionale Misshandlung,
- 13 % emotionale Vernachlässigung und
- 4 % körperliche Vernachlässigung erlebt haben.
Darüber hinaus gaben fast 10 % der Befragten an, in ihrer Kindheit oder Jugend häusliche Gewalt zwischen den Eltern miterlebt zu haben – eine Form negativer Kindheitserfahrung, die heute als ebenso schädlich eingestuft wird wie unmittelbar erfahrene Misshandlung.
Die Folgen von Kindesmisshandlung sind vielfältig, sie können akut oder im Verlauf auftreten. Für alle Formen gilt, dass die Betroffenen im Laufe des Lebens überdurchschnittlich häufig psychische, aber auch somatische Erkrankungen entwickeln.
V.a. Kindesmisshandlung
Die Differentialdiagnose Kindesmisshandlung sollte in Erwägung gezogen werden insbesondere bei:
Körperliche Misshandlung
- Säugling: An Schütteltrauma-Syndrom denken bei:
- Plötzlicher Bewusstlosigkeit aus vollständiger Gesundheit heraus
- Epileptische Anfälle, Apnoe; insbesondere in Verbindung mit Verletzungen wie Hämatome an Armen oder Thorax sowie Rippen oder Oberarmfrakturen
- Prämobile Kinder: Jegliches Hämatom ist auffällig
- Geformte oder gruppierte Hämatome (z. B. Bissverletzungen, Stockschläge, Kabel- oder Handabdruck)
- Hämatome unterschiedlichen Alters, insbesondere an Prädilektionsstellen wie
- An/hinter den Ohren
- Intraoral
- An den Wangen oder Kieferwinkeln
- Am Hals
- Am Thorax oder Abdomen
- Am Gesäß oder Genitale, insbesondere bei Windelträgern
- An der Innenseite der Arme oder Beine
- Schwere Verletzungen wie Knochenbrüche mit leerer oder unplausibler Anamnese (insbesondere bei prämobilen Säuglingen)
Lokalisationen „typischer“ Verletzungen durch Misshandlungen bei Kindern (angepasst nach Etzold, Tsokos 2016)
Vernachlässigung
- Wohnung dreckig, unhygienisch oder gefährlich
- Kleidung schmutzig, nicht der Witterung angepasst
- Pflegezustand mangelhaft (Fingernägel, Haut, Geruch)
- Deutliche Unter- oder Fehlernährung, Exsikkose, unklare Gedeihstörung, insbesondere beim Säugling (DD körperliche Erkrankungen wie Malabsorptionssyndrome!)
- Unfälle wie Fensterstürze oder Hundebisse durch mangelnde Beaufsichtigung
- unklare motorische, sprachliche, kognitive Entwicklungsverzögerung
- Mangelhafte medizinische und zahnmedizinische Versorgung: kariöser Zahnstatus, nicht ausreichend be- oder unbehandelte Grunderkrankung
Emotionale Misshandlung
- Häufig eher direkt beobachtet als durch Symptome diagnostiziert
- Beispiele:
- Ständiges Herabsetzen, Beschimpfen oder Lächerlich-Machen
- Terrorisieren / Bedrohen
- Soziale Isolation
- Ignorieren / emotionale Vernachlässigung
- Starke Überforderung und unrealistische Leistungsanforderungen
- Korrumpieren
- Ausbeutung für elterliche Bedürfnisse
- Öffentliche Beschämung („Shaming“) – offline oder online
- Zerstören geliebter Gegenstände
Sexualisierte Gewalt
- Meist zeigen die Betroffenen unterschiedliche psychische Symptome je nach Häufigkeit der Übergriffe und Alter des Kindes.
- Es können körperliche Verletzungen, z. B. oral, genital oder anal auftreten. Ebenso können assoziierte Verletzungen wie Hämatome, Bissspuren, Würgemale erkennbar sein
- Es sollte an toxikologische Untersuchungen gedacht werden, da Täter:innen häufig Sedativa einsetzen
- Beispiele:
- Hands-on (direkter Körperkontakt)
- Ungewollte Berührungen und Grenzüberschreitungen
- Vergewaltigung
- Erzwungene sexuelle Handlungen unter Kindern
- Hands-off (kein Körperkontakt)
- Sextortion (Erpressung z. B. mit zugeschickten Nacktbildern)
- Zeigen oder Zusenden von Pornografie
- Exhibitionismus vor dem Kind
- Sexuelle Belästigung (online oder offline)
- Hands-on (direkter Körperkontakt)
Weitere Hinweise auf mögliche Misshandlungen:
- Anamnese passt nicht zu vorliegendem Befund
- Irreführende, widersprüchliche Angaben zum Unfallhergang
- Verzögerte Vorstellung nach Verletzung
- Wiederholte Vorstellung mit ähnlichen Verletzungen
Sowohl anamnestische Aussagen als auch körperliche Untersuchungsbefunde und Verletzungsmuster können irreführend sein und fehlinterpretiert werden. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig begründete Sorgen um das Wohl der Patient:innen offen anzusprechen und zeitnah zu klären. Von einer transparenten Kommunikation und dem Angebot von Hilfen oder Beratungsstellen ist nur dann abzusehen, wenn dies vermutlich eine weitere Gefährdung der Patient:innen zur Folge hätte.
Auf Grund der Komplexität und Vielgestaltigkeit von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung ist das Wichtigste die Sensibilisierung zur Erkennung potentiell Betroffener.
Vorgehen
Gespräch
- Gespräch suchen: In ruhiger, geschützter Atmosphäre und ohne Angehörige, unter Hinweis auf Vertraulichkeit, jedoch möglichst mit einer weiteren Person aus dem Team.
- Im Gespräch mit den Kindern Suggestivfragen unbedingt vermeiden
- Detaillierte Anamnese (z. B. bei sexualisierter Gewalt) ggf. Expert:innen überlassen
- Objektive Hinweise für den Verdacht erläutern und Hilfe anbieten
- Keine Verurteilung/Druck, falls Hilfe und Verdacht sofort abgetan werden
- Verschiedene Hilfsmöglichkeiten anbieten
Dokumentation
- Ausführliche Befunddokumentation (möglichst mit Fotodokumentation). Standardisierte Dokumente nutzen (z.B. →SIGNAL e.V.)
- Wörtliche Rede zur Dokumentation wichtiger Aussagen nutzen, insbesondere bei Kleinkindern
- Untersuchung immer am vollständig entkleideten Körper (um weitere Verletzungen zu erkennen, nichts übersehen)
- Angebot, eine vertrauliche Gesprächsnotiz und Befunddokumentation für spätere Verwendung anzufertigen
Praktische Tipps zur Befunddokumentation
- Möglichst präzise Beschreibung der Verletzung (Bsp.: „längliches, quer zur Körperachse verlaufendes, gelblich-braunes Hämatom 4 cm oberhalb der linken Mamille“ oder „Tiefe, ca. 7cm lange und 0,5cm breite Schnittwunde, parallel zur Körperachse verlaufend am rechten seitlichen Oberarm mit Freilegung der Muskulatur“)
- Exakte Größe und Lokalisation (Bsp.: "2x3,5cm parasternal auf Mamillenhöhe")
- Fotodokumentation immer mit Referenzobjekt als Maßstab (Winkel-Lineal) mit Detailaufnahme und Übersichtsaufnahme
- Immer auch auf petechiale Einblutungen als Folge eines Stauungssyndroms achten
- Hinter den Ohren und enoral nach Verletzungen (z. B. Riss des Zungenbändchens bei erzwungenem Trinken) schauen
Management
Bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung gilt ein gestuftes Vorgehen nach § 4 KKG (Bundeskinderschutzgesetz). Besteht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung Unklarheit zum weiteren Vorgehen kann eine telefonische Beratung durch die medizinische Kinderschutzhotline eingeholt werden. Es darf niemals davon ausgegangen werden, dass dies bereits an anderer Stelle geschehen ist oder noch geschehen wird!
- Großzügig stationäre Aufnahme anbieten. Genauere Beurteilung und weitere Hilfe dann im stationären Verlauf leichter möglich.
- Erörterung der Situation mit dem Kind und den Sorgeberechtigten
- Inanspruchnahme von Hilfen anregen
- Scheidet das o. g. Vorgehen aus oder sind erst genannte Schritte erfolglos oder gefährden das Kind zusätzlich, ist eine Information an das Jugendamt auch ohne Einwilligung der Sorgeberechtigten möglich. Die Eltern sollten immer über die Mitteilung an das Jugendamt informiert werden.
- Bei Unsicherheiten bzgl. des Vorgehens ist stets und jederzeit eine anonyme Beratung durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“ (z.B. medizinische Kinderschutzhotline: 0800 1921 000) möglich.
Schweigepflicht und Meldung
Mitteilungsbefugnis an das Jugendamt (§ 4 KKG):
Erscheint in einem konkreten Fall bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung der Einbezug des Jugendamtes notwendig, sind Ärzt:innen und andere Berufsgeheimnisträger:innen nach § 4 KKG befugt, entsprechende Informationen an das Jugendamt weiterzugeben. Jedoch sollte nur bei „gewichtigen Anhaltspunkten" für eine Kindesmisshandlung eine Mitteilung an das zuständige Jugendamt erfolgen. Von der Information der Sorgeberechtigten über Mitteilung kann nur abgesehen werden, wenn diese nicht möglich ist oder durch die Information das Kind zusätzlich gefährdet würde. Unter den genannten Voraussetzungen stellt eine Mitteilung an das Jugendamt keinen Bruch der Schweigepflicht dar! Eine Meldepflicht besteht nicht.
Rechtfertigender Notstand (§34 StGB):
Bei Verdacht auf „Gefahr für Leib und Leben“ kann die Schweigepflicht im Rahmen des rechtfertigenden Notstandes straffrei gebrochen werden, um die Polizei zu informieren. Dies ist allerdings nur möglich, wenn eine Meldung nach § 4 KKG ans Jugendamt nicht ausreichend erscheint oder aktuell nicht möglich ist UND die Gefahr fortwährend für das Kind besteht UND die Information der Polizei ein geeignetes Mittel zu sein scheint, um der Gefahr zu begegnen.
Da die Abwägung der unterschiedlichen Rechtsgüter in der Praxis schwierig ist, kann zuvor eine Beratung über die Medizinische Kinderschutzhotline (0800 1921 000) erfolgen.
Weiterführende Literatur und Links
Interessante Links (frei zugänglich)
- Medizinische Kinderschutzhotline (für med. Fachpersonal)
- Kinderschutzleitlinie (AWMF 2022)
- Fortbildungsmöglichkeiten
- Basiskurs (für alle Berufsgruppen) und Aufbaukurs (nur Ärzt:innen) der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin
- E-Learning Kurse der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm, teils auch über die Plattform Kinderschutz im Saarland verfügbar
- Informationen zum Kinderschutz außerhalb von Deutschland:
- Österreich (Kinderschutzzentren Österreich)
- Schweiz (Kinderschutz Schweiz)
Literatur
- DGKiM. AWMF S3+ Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie). AWMF (2022).
- Binder, S., Froch-Cortis, J. & Banaschak, S. Kindesmisshandlung: Symptome erkennen in der Notaufnahme. Notaufnahme up2date 2, 179–193 (2020).
- Berthold, O. et al. Notfallmedizinische Aspekte der Kindesmisshandlung. Notfallmedizin up2date 15, 289–302 (2020).