V.a. Misshandlung
Die Folgen von Gewalt nach Misshandlung oder häuslicher Auseinandersetzung führen häufig zur Vorstellung in der Notaufnahme. Dabei ist die Aufgabe der Notaufnahme das Erkennen möglicher Misshandlung und das Angebot von Hilfe für die Betroffenen sowie bei akuter Gefährdung (insb. von Minderjährigen) die Hinzuziehung der Polizei.
Bei Unsicherheit bezüglich Kinder: →Medizinische Kinderschutzhotline (24h Tel: 0800 19 210 00)
Wichtig: Nicht „nur“ Kinder und Frauen sind von Misshandlungen betroffen und gefährdet - sondern insbesondere auch Ältere, Pflegebedürftige, (illegale) Migranten, Behinderte!
Neben aktiver Gewaltanwendung durch Schläge, sexuelle Gewalt etc. kann Misshandlung auch passiv durch Vernachlässigung von Kindern oder pflegebedürftigen Menschen stattfinden. Während Gewaltverbrechen und deren Folgen sehr präsent in den Köpfen des Klinikpersonals sind, können die Folgen von Vernachlässigung oft unscheinbarer sein.
Das Wichtigste ist Sensibilität zur Erkennung potentieller Missbrauchsopfer. Dabei sollten begründete Sorgen um das Wohl von Patient:innen offen angesprochen werden.
Sowohl Hinweise, als auch körperliche Untersuchungsbefunde/Verletzungsmuster können irreführend sein und fehlinterpretiert werden. Häufig klärt sich der Verdacht bei offener Kommunikation mit Patient:innen auf.
Hinweise auf mögliche Misshandlungen
- Anamnese passt nicht zu vorliegendem Befund
- Irreführende, widersprüchliche Angaben zum Unfallhergang
- Verzögerte Vorstellung nach Verletzung
- Wiederholte Vorstellung mit ähnlichen Verletzungen in der Notaufnahme
“Typische” Verletzungen
- Gruppierte Hämatome an normalerweise geschützten Körperarealen (Ohren, Wangen, Genital)
- Abwehrverletzungen (z.B. Hämatome an Unterarmen)
- Geformte Hämatome (typisch z.B. Bissverletzungen, Stockschläge)
- Hämatome bei Säuglingen
- Verletzungen oberhalb der „Hutkrempenlinie“
Lokalisationen „typischer“ Verletzungen durch Misshandlungen bei Kindern (angepasst nach Etzold, Tsokos 2016)
Hinweise auf Vernächlässigung
- Verwahrlosung, mangelnde Hygiene, inadäquate oder verschmutzte Bekleidung
- Unterernährung oder Exsikkose (Cave: Nahrungsverweigerung insb. im Alter vs. mangelndes Nahrungsangebot)
- Gedeihstörungen bei Kindern, körperliche/kognitive Unterentwicklung
Vorgehen
Gespräch
- Gespräch suchen: In ruhiger, geschützter Atmosphäre und ohne Angehörige, unter Hinweis auf Vertraulichkeit, jedoch möglichst mit einer weiteren Person aus dem Notaufnahmeteam (zwecks Zeugenaussage).
- Objektive Hinweise für den Verdacht erläutern und Hilfe anbieten
- Keine Verurteilung/Druck, falls Hilfe und Verdacht sofort abgetan wird
- Verschiedene Hilfsmöglichkeiten anbieten
Dokumentation
- Ausführliche Befunddokumentation (möglichst mit Fotodokumentation)
- Standardisierte Dokumente nutzen (z.B. →SIGNAL e.V.)
- Immer Untersuchung am entkleideten Körper (weitere Verletzungen erkennen), insb. bei Kindern!
- Anbieten, eine vertrauliche Gesprächsnotiz und Befunddokumentation für spätere Verwendung anzufertigen
Praktische Tipps zur Befunddokumentation
- Möglichst präzise Umschreibung der Verletzung (Bsp.: kratzartig, tiefe Schnittwunde mit Freilegung der Muskulatur, längliches Hämatom)
- Exakte Größe und Lokalisation (Bsp.: 2x3,5cm parasternal auf Mamillenhöhe)
- Fotodokumentation immer mit Referenzobjekt als Maßstab (Lineal, Stift) mit Detailaufnahme und Übersichtsaufnahme
- Immer auch auf petechiale Einblutungen als Folge eines Stauungssyndroms achten
Management
Erwachsene Opfer wünschen in der Praxis zunächst teilweise keine Anzeige (ev. bei Beziehungstaten). Dies darf nicht verurteilt werden. Vielmehr müssen Hilfsangebote aufgezeigt und begründete Sorgen mitgeteilt werden. Meldepflichten gegen den Patient:innenwillen gibt es bei Erwachsenen nicht.
Hinweis auf akute Kindeswohl-Gefährdung
Begründete Verdachtsfälle für Kindesmisshandlung müssen gemeldet werden! Es darf niemals davon ausgegangen werden, dass dies bereits an anderer Stelle geschehen ist oder noch geschehen wird!
- Im Zweifel Polizei hinzuziehen!
- Großzügig stationäre Aufnahme anbieten
- Weitere Beurteilung und Hilfe dann im stationären Verlauf möglich
- Bei Verdacht auf Kindesmisshandlung und Unklarheit zum Vorgehen ggf. telefonische Beratung durch →medizinische Kinderschutzhotline: 0800 19 210 00 (24h)
Schweigepflicht und Meldung
Kinder:
Bei Verdacht auf eine „Gefahr für Leib und Leben“ kann die Schweigepflicht im Rahmen des rechtfertigenden Notstandes gebrochen werden, um Polizei oder Jugendamt zu informieren. Dies ist allerdings nur möglich, wenn von einer fortbestehenden Gefahr für das Kind ausgegangen werden muss. Da diese Abwägung in der Praxis schwierig ist, kann zuvor eine Beratung über die medizinische Kinderschutzhotline (0800 19 210 00) erfolgen. Nur bei „gewichtigen Anhaltspunkten" für Kindesmisshandlung sollte eine Meldung an das zuständige Jugendamt erfolgen.
Erwachsene:
Bei der Versorgung von erwachsenen Missbrauchsopfern kann eine Schweigepflicht-Entbindung nur nach Zustimmung des Opfers erfolgen. Kann das Opfer seinen freien Willen nicht äußern (z.B. wegen Demenz, Koma etc.), muss zunächst Rücksprache mit der vorsorgebevollmächtigten Person gehalten werden. Bei einer akuten Gefährdungssituation kann allerdings der mutmaßliche Patient:innenwille als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden.
Weiterführende Literatur und Links
Interessante Links (frei zugänglich)
- Medizinische Kinderschutzhotline (für med. Fachpersonal)
- Kinderschutzleitlinie (AWMF 2022)
Literatur
- DGKiM. AWMF S3+ Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie). AWMF (2022).
- Binder, S., Froch-Cortis, J. & Banaschak, S. Kindesmisshandlung: Symptome erkennen in der Notaufnahme. Notaufnahme up2date 2, 179–193 (2020).
- Berthold, O. et al. Notfallmedizinische Aspekte der Kindesmisshandlung. Notfallmedizin up2date 15, 289–302 (2020).