V.a. Misshandlung
Die Folgen von Gewalt nach Misshandlung, häuslicher Auseinandersetzung oder Vernachlässigung führen häufig zur Vorstellung in der Notaufnahme oder Verständigung des Rettungsdienstes. Dabei ist die Aufgabe der Notfallmedizin das Erkennen möglicher Misshandlung und das Angebot von Hilfe für die Betroffenen.
Details zu (vermuteter) Kindesmisshandlung siehe: V.a. Kindesmisshandlung und Vernachlässigung
Wichtig: Nicht „nur“ Kinder und Frauen sind von Misshandlungen betroffen und gefährdet - sondern insbesondere auch Ältere, Pflegebedürftige, (illegale) Migranten, Behinderte!
Neben aktiver Gewaltanwendung durch Schläge, sexuelle Gewalt etc. kann Misshandlung auch passiv durch Vernachlässigung von Kindern oder pflegebedürftigen Menschen stattfinden. Während Gewaltverbrechen und deren Folgen sehr präsent in den Köpfen des Klinikpersonals sind, können die Folgen von Vernachlässigung oft unscheinbarer sein.
Das Wichtigste ist Sensibilität zur Erkennung potentieller Missbrauchsopfer. Dabei sollten begründete Sorgen um das Wohl von Patient:innen offen angesprochen werden.
Sowohl Hinweise, als auch körperliche Untersuchungsbefunde/Verletzungsmuster können irreführend sein und fehlinterpretiert werden. Häufig klärt sich der Verdacht bei offener Kommunikation mit Patient:innen auf.
Hinweise auf mögliche Misshandlungen
- Anamnese passt nicht zu vorliegendem Befund
- Irreführende, widersprüchliche Angaben zum Unfallhergang
- Verzögerte Vorstellung nach Verletzung
- Wiederholte Vorstellung mit ähnlichen Verletzungen in der Notaufnahme
“Typische” Verletzungen (Übersicht)
- Gruppierte Hämatome an normalerweise geschützten Körperarealen (Ohren, Wangen, Genital)
- Abwehrverletzungen (z.B. Hämatome an Unterarmen)
- Geformte Hämatome (typisch z.B. Bissverletzungen, Stockschläge)
- Verletzungen oberhalb der „Hutkrempenlinie“
Hinweise auf Vernächlässigung
- Verwahrlosung, mangelnde Hygiene, inadäquate oder verschmutzte Bekleidung
- Unterernährung oder Exsikkose (Cave: Nahrungsverweigerung insb. im Alter vs. mangelndes Nahrungsangebot)
Vorgehen
Gespräch
- Gespräch suchen: In ruhiger, geschützter Atmosphäre und ohne Angehörige, unter Hinweis auf Vertraulichkeit, jedoch möglichst mit einer weiteren Person aus dem Team.
- Im Gespräch mit den Kindern Suggestivfragen unbedingt vermeiden
- Detaillierte Anamnese (z. B. bei sexualisierter Gewalt) ggf. Expert:innen überlassen
- Objektive Hinweise für den Verdacht erläutern und Hilfe anbieten
- Keine Verurteilung/Druck, falls Hilfe und Verdacht sofort abgetan werden
- Verschiedene Hilfsmöglichkeiten anbieten
Dokumentation
- Ausführliche Befunddokumentation (möglichst mit Fotodokumentation). Standardisierte Dokumente nutzen (z.B. →SIGNAL e.V.)
- Wörtliche Rede zur Dokumentation wichtiger Aussagen nutzen, insbesondere bei Kleinkindern
- Untersuchung immer am vollständig entkleideten Körper (um weitere Verletzungen zu erkennen, nichts übersehen)
- Angebot, eine vertrauliche Gesprächsnotiz und Befunddokumentation für spätere Verwendung anzufertigen
Praktische Tipps zur Befunddokumentation
- Möglichst präzise Beschreibung der Verletzung (Bsp.: „längliches, quer zur Körperachse verlaufendes, gelblich-braunes Hämatom 4 cm oberhalb der linken Mamille“ oder „Tiefe, ca. 7cm lange und 0,5cm breite Schnittwunde, parallel zur Körperachse verlaufend am rechten seitlichen Oberarm mit Freilegung der Muskulatur“)
- Exakte Größe und Lokalisation (Bsp.: "2x3,5cm parasternal auf Mamillenhöhe")
- Fotodokumentation immer mit Referenzobjekt als Maßstab (Winkel-Lineal) mit Detailaufnahme und Übersichtsaufnahme
- Immer auch auf petechiale Einblutungen als Folge eines Stauungssyndroms achten
- Hinter den Ohren und enoral nach Verletzungen (z. B. Riss des Zungenbändchens bei erzwungenem Trinken) schauen
Management
Erwachsene Opfer wünschen in der Praxis oft zunächst teilweise keine Anzeige (ev. bei Beziehungstaten). Dies darf nicht verurteilt werden. Vielmehr müssen Hilfsangebote aufgezeigt und begründete Sorgen mitgeteilt werden. Meldepflichten gegen den Patient:innenwillen gibt es bei Erwachsenen nicht.
Bei V.a. auf akute Kindeswohl-Gefährdung siehe Kindesmisshandlung
Schweigepflicht und Meldung (Erwachsene)
Bei der Versorgung von erwachsenen Missbrauchsopfern kann eine Schweigepflicht-Entbindung nur nach Zustimmung des Opfers erfolgen. Kann das Opfer seinen freien Willen nicht äußern (z.B. wegen Demenz, Koma etc.), muss zunächst Rücksprache mit der vorsorgebevollmächtigten Person gehalten werden. Bei einer akuten Gefährdungssituation kann allerdings der mutmaßliche Patient:innenwille als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden.
In Ausnahmefällen, bei akuter Gefahr für Leib und Leben (Einzelfallbeurteilung, ggf. juristische Hilfe in Anspruch nehmen) kann die Schweigepflicht im Rahmen des rechtfertigenden Notstandes (§34 StGB) gebrochen werden um z.B. die Polizei hinzuziehen.
Weiterführende Literatur und Links
Interessante Links (frei zugänglich)
- Medizinische Kinderschutzhotline (für med. Fachpersonal)
- Kinderschutzleitlinie (AWMF 2022)
Literatur
- DGKiM. AWMF S3+ Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie). AWMF (2022).
- Binder, S., Froch-Cortis, J. & Banaschak, S. Kindesmisshandlung: Symptome erkennen in der Notaufnahme. Notaufnahme up2date 2, 179–193 (2020).
- Berthold, O. et al. Notfallmedizinische Aspekte der Kindesmisshandlung. Notfallmedizin up2date 15, 289–302 (2020).